Was ist Autismus – Einführung und Positionsbestimmung

Die autistische Beeinträchtigung gilt als schwere Entwicklungsstörung (Pervasive Developmental Disorder), die sich spätestens bis zum dritten Lebensjahr manifestiert und die tiefgreifende Beziehungs- und Kommunikationsstörungen umfaßt. Der bisher überwiegend verwendete Begriff des frühkindlichen Autismus umfaßte ebenfalls die Kommunikations- und Interaktionsstörungen. Da die autistischen Beeinträchtigungen in der Regel nicht auf ein Merkmal oder wenige Merkmale beschränkt sind, vielmehr fast immer eine Vielzahl von unterschiedlichen Symptomen auftreten, wird in der neueren Literatur und in den Klassifikationsschemata DSM und ICD der Begriff des autistischen Syndroms eingeführt.

Es werden zwar in den neueren Forschungsergebnissen deutliche Hinweise sichtbar, daß das autistische Syndrom auf organischen und genetischen Störungen basiert (Herbst & Proustka, 1998; Georgescu in FAZ, 1997), bislang konnte jedoch noch kein einzelner eindeutiger Verursachungsfaktor aus der Vielzahl der möglichen Ursachen herausfiltriert werden.

Die vorliegenden Erkenntnisse deuten auf komplexe Ursachenbündel hin, wobei sich Einzelbeeinträchtigungen in ihren Auswirkungen gegenseitig beeinflussen. Multikausale Ansätze versuchen diesem Umstand gerecht zu werden.

Neben den tiefgreifenden Beziehungs- und Kommunikationsstörungen hat die Problematik der gestörten Wahrnehmungs- und Reizverarbeitung eine starke Bedeutung. Diese Perzep-tions- und Informationsverarbeitungsstörungen sind auch meines Erachtens verantwortlich für die veränderte Entwicklung (tiefgreifende Entwicklungsstörung) im gesamten sozialen, kognitiven und affektiven Bereich. Hieraus ergeben sich dann auch die vielfältigen Erscheinungen des autistischen Syndroms mit stereotypen Verhaltensweisen, Unter- und Überempfindlichkeiten der Wahrnehmungen auf allen "Kanälen", Einschränkungen und Besonderheiten bei Kommunikation und Interaktion bis hin zum "Ausbleiben" der lauten Sprache als Kommunikationsform.

Insoweit ist das herausragende Merkmal des autistischen Syndroms die Einschränkung der Kommunikations- und Interaktionsperformanz und hier insbesondere die Entwicklung und der Gebrauch der Sprache. Alle Betroffenen, auch wenn sie fast "normal" sprechen können, zeigen Auffälligkeiten in der Sprachanwendung. Beim schwereren Fall (Kanner-Typ – low-level) des autistischen Syndroms entwickeln ca. 50 Prozent überhaupt keine Sprache. Von daher ist dieses Phänomen auch schwer zugänglich und insbesondere hinsichtlich der neueren Äußerungen von nicht-sprechenden autistisch Behinderten mittels gestützter Kommunikation (FC) nicht nur für Fachleute verwirrend.

Der Prozeß der Sprachentwicklung kann generell als "Meilenstein" für die allgemeine kognitive Entwicklung angesehen werden und ist wesentliches Element, wenn nicht sogar als "das wesentlichste Element" in der Ausprägung des autistischen Syndroms. Dabei kann über einen verstehenden Zugang und über die Berücksichtung des Prozeßcharakter der Interaktion (Prizant, 1983) die spezifischen Sprach- und Interaktionsphänome des autistischen Syndroms verstanden werden. Dies entspricht auch den neueren Forderungen der Sonderpädagogik, die sich von einer vorwiegend defizitorientierten über eine personenorientierte hin zu einer systemisch verstehenden Disziplin entwickelt hat (Fischer, 1997).